Alles könnte anders sein…

…und christlichen Kirchen, Einrichtungen und Gemeinden sowie Partnerschaftsgruppen kommt dabei eine neue Bedeutung zu.

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh. 10,10) Leben in Fülle habe ich vor allem dann, wenn ich eine Wahl habe. Dies ist im weltweiten Kontext für die meisten Menschen nicht gegeben. Damit ist das Wohlbefinden der Marginalisierten eines der entscheidenden Kriterien für unsere Arbeit. In der gegenwärtigen Welt stellen wir fest, dass ein Leben in Fülle/Würde einem großen Teil der Menschheit aufgrund vielfältiger kultureller, ökonomischer, religiöser, ökologischer und sozialer Faktoren verwehrt ist.

Gott, verändere das Angesicht der Erde – und fange bei uns an

Fragen von Unterentwicklung und Entwicklung sind u. a. begründet in der Philosophie der großen Aufklärer, die das Bild der Überlegenheit der Weißen mit geformt haben. Weißsein ist in der Regel den deutschen Mehrheitsangehörigen – oder deutlicher: den politisch Weißen des globalen Nordens – nicht bewusst, aber dennoch als Selbstkonzept wirksam. Wir sind herausgefordert, unsere eigenen inneren Landkarten kritisch in Frage zu stellen und uns zu verändern. Es gilt, unsere Haltung als die „Engagierten“ im Blick auf unsere Weltverantwortung zu dekonstruieren und die Begriffe Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung neu zu füllen. Dies ist auch hinsichtlich der Begriffe Entwicklung/Unterentwicklung und den damit zusammenhängenden weltweit etablierten Formen der „Entwicklungszusammenarbeit“ zu bedenken.

Agenda 2030 – eine Chance oder ein fauler Kompromiss?

Definitiv eine Chance. Politik ist immer auf (manchmal kleinste) gemeinsame Nenner angewiesen. Die Agenda 2030 formuliert einen gemeinsamen Horizont, der von Großteilen der Weltgemeinschaft getragen wird: Endlich wird auch in offizielle Strategien mit aufgenommen, dass der globale Norden Verantwortung für die hier formulierte Vision übernehmen muss. Aus der Präambel: „Diese Agenda ist ein Aktionsplan für die Menschen, den Planeten und den Wohlstand. Sie will außerdem den universellen Frieden in größerer Freiheit festigen. Wir sind uns dessen bewusst, dass die Beseitigung der Armut in allen ihren Formen und Dimensionen, einschließlich der extremen Armut, die größte globale Herausforderung und eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung ist.“

Damit ist eine weitgehende Erkenntnis als politischer Wille formuliert: Die globalen Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Hierfür muss das Leitprinzip der nachhaltigen Entwicklung konsequent angewendet werden.

Rolle von Religion und Entwicklung

Während die Milleniums-Entwicklungsziele (2000—2015) noch stärker auf staatliche Programme setzen, sind im Prozess der Entwicklung der Agenda 2030 u. a. auch die Faktoren von Zivilgesellschaft und Religion deutlicher ins Bewusstsein gerückt. Die Erkenntnis, dass z. B. die Rolle von Religion für Entwicklung bislang viel zu sehr unterbewertet wurde, fand durch Studien und Beschlüsse der Vereinten Nationen schließlich Eingang in die jeweiligen staatlichen Programme, sodass man nach der 2015 erschienenen Veröffentlichung des BMZ (Rolle von Religion in der deutschen Entwicklungspolitik) heute von einer deutlichen Anerkennung dieses Arbeitsfeldes im Bereich der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sprechen kann. Denn eine Entwicklungspolitik, die den einzelnen Menschen in den Blick nimmt, muss dessen Kultur, Religion und Weltanschauung ernst nehmen.

Wusstest du schon?

Bei allen, auch kritisch zu nennenden Faktoren von Religion (z. B. Frauenbild) und religiös motivierten Konflikten ist eben auch zu konstatieren, dass nach Schätzungen der Weltbank beispielsweise in Afrika südlich der Sahara rund die Hälfte aller Leistungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit von religiösen oder religiös motivierten Organisationen erbracht wird. Ebenso ist im Themenkomplex Migration zu vermerken, dass die sog. „remittances“, also die Zahlungen, die Migrant*innen u. a. an Familienmitglieder in ihren Herkunftsländern überweisen, die offiziellen Entwicklungsgelder (ODA – Official Development Aid) weltweit um ein Vielfaches übersteigen.

Der Beitrag von Kirchen, Gemeinden sowie kirchlichen Werken

Neben diesen globalen politischen Kontexten kommt im Rahmen der Agenda 2030 damit auch den verschiedenen christlichen Kirchen, kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden sowie Partnerschaftsgruppen eine neue Bedeutung zu. Die EKD fordert in ihrer Broschüre „Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben. Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen“, dass Kirchen weltweit als Mahner, Mittler und Motor im Kontext der globalen Herausforderungen aktiv werden. Die christliche Botschaft bietet die Möglichkeit, sich in öffentliche Debatten einzuschalten. So kann z. B. auch das Ev.-luth. Missionswerk in Niedersachsen (ELM) mit Partnerkirchen nachhaltige Entwicklung exemplarisch erproben und umsetzen oder durch die weltweite Vernetzung kann im Bereich der Kommunikation Advocacy-Arbeit konkret werden etc. Genauso wichtig ist es aber auch, in kleinen lokalen Kontexten, z. B. im Rahmen einer Partnerschaftsgruppe oder Gemeinde, zu überlegen, wie man an Haltungen gegenüber „Fremden“ arbeiten oder eine große diakonische Einrichtung ihre Beschaffung öko-fair gestalten kann. Hier ist zu diskutieren, wie dies auch in Kooperation mit staatlichen Prozessen möglich ist, so z. B. im Bereich öko-fairer Beschaffung oder durch Einsatz von Eine-Welt-Promotor*innen staatlicher Stellen auch in kirchlichen Kontexten.

Dr. Mirjam Laaser