Den Frieden singen
Menschen, die sich für den Frieden einsetzen, brauchen Hoffnung. Hoffnung, wo eigentlich nichts mehr zu hoffen ist, weil die Erfahrung uns das Gegenteil lehrt.
Mir fällt ein Satz von Rabindranath Tagore ein: „Glaube ist der Vogel, der schon singt, wenn die Nacht noch dunkel ist.“
Worin wurzelt die Hoffnung des Vogels, dass es Tag wird? Warum beginnt er zu singen, obwohl es noch dunkel ist? Eine Antwort vielleicht: Er rechnet damit, dass er gehört wird in der Stille der Nacht. Hoffnung rechnet damit, dass da jemand ist. So wie jedes Gebet nur darum Sinn macht, weil ich damit rechne, da hört jemand – da hört Gott. Die Wurzeln dieser Hoffnung, die Tagore Glauben nennt, reichen aber wahrscheinlich auch noch tiefer. Sie erreichen Erfahrungen, die der Hoffnung Kraft geben. Das können ganz unterschiedliche Erfahrungen sein. Eigene überwundene schwierige Erfahrungen oder Berichte von Menschen, die erzählt haben von dunkler Zeit in ihrem Leben und wie sie Kraft gefunden haben.
Glaube in dunkler Zeit
Ich denke zum Beispiel oft an eine Frau, die schon drei von ihren vier Söhnen beerdigt hatte und auf meine Frage, woher sie die Kraft zum Leben habe, sagte: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt.“ Dieses Lied von Paul Gerhardt, nach Psalm 37,5 gedichtet, war ihr Glaube in dunkler Zeit. Wie das Lied eines Vogels, der den Morgen noch nicht sieht.
Solche Hoffnung soll Menschen tragen, die sich für den Frieden einsetzen. Noch ist Krieg. Aber wir singen schon vom Frieden. In der Bibel heißt es, dass es einen Frieden gibt, der höher ist als alle Vernunft. Man kann daraus schließen: für manche Menschen ist Frieden unvernünftig. Er setzt ja häufig Kompromisse, Vergebung und Neuanfang, Veränderung voraus. Kann man darauf hoffen? Glauben, dass Menschen die Kraft dazu gewinnen?
Ja, man kann!
Michael Thiel