Die Macht der Bitte

„So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst Euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor 5,20)

Dieses Wort erinnert uns daran, wie Gott Menschenherzen in Bewegung versetzt. Christ*innen sollen das Evangelium bezeugen in Wort und Tat. Aber ob und wie es wirkt, haben sie nicht in der Hand. Häufig kommt Gottes Macht auch erst zum Tragen, wenn wir riskieren, unsere Klischees und Vorurteile gegenüber anderen zu verlassen. Etwa dort, wo wir Menschen um etwas bitten, was wir eigentlich gar nicht erwarten können. Wir liefern uns mit dem Risiko, ein Nein oder gar größeren Widerstand zu ernten, aus. Aber Gottes Geist gebraucht den Spielraum abseits unserer Blockaden und bewirkt gerade dort seine Wunder.

Eine Geschichte der Vergebung im Libanon

Ein bewegendes Beispiel für diese Vollmacht des Bittens (welches ich in einer ems– Schrift entdeckte) erlebte vor ein paar Jahren die syrisch-maronitische Christin Leila Saleeby im Libanon: Nachdem ihr Bruder in Beirut von einem drusischen Mann aus Rachegefühlen gegenüber Christen erschossen wurde, bat sie ausgerechnet ihre drusischen Nachbarn im Heimatdorf, die Todesnachricht an ihren Vater weiterzugeben. Erst nachdem sie diesen Liebesdienst wie selbstverständlich erbeten hatte, fiel ihr auf, in welche Situation sie die drusisch-muslimischen Nachbarn da gebracht hatte. Sie würden nicht anders können, als selbst gegenüber ihrem Vater mit Demut aufzutreten oder eben diesen Gefallen zu verweigern. Diese aber lehnten die Bitte Leilas gerade nicht ab, sondern überbrachten die schlimme Nachricht mit Furcht und Zittern. Und sie erlebten im Haus ihres Vaters keine Rache, sondern vielmehr Gastfreundschaft in der gemeinsamen Trauer. Es hieß, dass Leila dann nach drei Tagen ihren Bruder zum Begräbnis ins Gebirge bringen konnte und dass viele Drusen dem Begräbnis beiwohnten. Sie schrieb später dazu: „Es war ein Druse, der einen aus unserer Familie umgebracht hatte, und es waren Drusen, die sich bei uns entschuldigt haben, sodass wir nie Hass gegenüber Drusen verspürten.“

Märtyrer Polykarp von Smyrna

Aus dieser Vollmacht der Bittenden schöpfte übrigens auch der am 23. Februar im ökumenischen Heiligenkalender erinnerte Bischof und Märtyrer Polykarp von Smyrna. Es heißt, dass Polykarp sogar den Häschern, die mit dem Auftrag zu ihm nach Hause geschickt wurden, um ihn der Untreue gegen den Staat wegen zu verhaften und zur Hinrichtung abzuholen, ein Gastmahl zubereiten ließ und ihnen die Hand der Versöhnung entgegen streckte.

Ein Friedensgebet

Das bekannte Gebet aus der franziskanischen Tradition lädt ebenfalls dazu ein, sich auf die überraschenden Wege Christi zur Versöhnung mit Gott und den Menschen einzulassen. Ich lade dazu ein, heute neu damit zu beginnen und in dieses Gebet einzustimmen.

Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt.
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.

Amen

Prof. Dr. Wilhelm Richebächer