Ich will mich mal beklagen
Zwei Bekannte treffen sich an der Kasse im Supermarkt. „Schön, dich zu sehen. Wie geht‘s dir?“, fragt die eine interessiert. „Ach, ich will mich nicht beklagen“, antwortet die andere zurückhaltend. Das Klagen hat nicht den besten Ruf. Wer sich zu viel beklagt, wirkt schnell undankbar und miesepetrig. Unausgesprochen entsteht der Eindruck: Klagen – das macht man besser nicht.
Klagen vor Gott – darf man das?
Auch das Christentum hat sich mit dem Klagen oft schwer getan. Das hat vor allem mit dem Respekt vor Gott zu tun. Darf ich als normalsterblicher Mensch es wagen, mich bei dem allmächtigen Schöpfer des Universums zu beklagen? Für viele Generationen von Gläubigen war das schlichtweg unvorstellbar. Als Ideal galt vielmehr, alles dankbar aus Gottes Hand zu nehmen und auch in schweren Schicksalsschlägen einen positiven Sinn zu entdecken. Da überrascht es, dass die Bibel ganz anders mit dem Klagen umgeht. Besonders im Buch der Psalmen finden sich Gebete, wo Menschen sehr offen und ehrlich mit Gott über die schweren Seiten ihres Lebens sprechen. Das klingt oft gar nicht fromm, sondern ziemlich konfrontativ.
Klagen in der Bibel
Mal beschreibt jemand mit deutlichen Worten die eigene Not: „Das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm“ (Psalm, 69,2-3) Ein anderes Mal wird Gott daran erinnert, doch bitte seinen Job richtig zu machen: „HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen?“ (Psalm 13,2). Gerne wird auch mit allen Tricks und Kniffen argumentiert: „Was hast du denn davon, wenn ich ins Grab hinab muss? Kann etwa der Staub dir danken? Oder kann er deine Treue verkünden?“ (Psalm 30,10).
Hinter den Klagepsalmen der Bibel steht die Erfahrung, dass es im Leben Momente gibt, die so schwer und ungerecht sind, dass sie unsere Erklärungsmöglichkeiten übersteigen. Auch der Glaube kann hier keinen Sinn mehr erkennen. Aber anstatt den Schmerz in sich hineinzufressen, bietet die Klage die Möglichkeit, die eigene Wut und Enttäuschung auszusprechen.
Gleichzeitig ist das Klagen keine fatalistische Haltung. Wenn ich Gott meine Not klage, versteckt sich darin die Hoffnung, dass sich meine Situation durch Gottes Eingreifen auch wieder bessern kann. So enden so gut wie alle Klagepsalmen in der vertrauensvollen Zuversicht, dass Gott helfen wird.
Klagen ist also nicht undankbar oder miesepetrig. Wenn ich Gott meine Not klage, nimmt gleichermaßen die Realität meines Leidens und meine Hoffnung als glaubender Mensch ernst. Am besten probiert man es einfach selbst aus: „Gott, ich will mich mal beklagen…“
Simon Volkmar