In den Wirren des Friedens
Die Bedeutung von Frieden bei veränderter Kriegsführung
Viele haben ein geschichtliches Verständnis von Krieg und Frieden. Von den Kriegen der letzten 100 Jahre ist man in Deutschland hoffentlich weit entfernt. Folgerichtig dürfte man behaupten, in Deutschland herrsche Frieden. Wenn wir uns mit dieser Aussage begnügen, blenden wir etwas aus, was Realität ist, so aber nicht wahrgenommen wird. Digitale Kriegsführung heißt das Stichwort. Längst werden Kriege nicht nur zu Land, Luft und Wasser geführt, sondern auch im Cyberraum.
Global gesehen ist es gar nicht schwer, kriegerische Auseinandersetzungen zu lokalisieren. Technischer, medizinischer und humaner Fortschritt bringt die menschliche Entwicklung weiter. Und trotzdem verhungern, infizieren oder verbluten Menschen. In Konflikten werden sie aufgerieben oder vertrieben. Durch die immer verfügbaren Medien treten Konflikte zum einen deutlich hervor. Zum anderen scrollt man einfach die Ereignisse des Tages runter und stumpft so langsam ab. Überspitzt gesagt könnte man meinen, Krieg und Bedrohung lauern so ziemlich überall, nur zum Glück nicht bei uns.
Frieden – ein lebensnotwendiger Wert
In Deutschland gilt, so etwas Schlimmes wie den 1. und 2. Weltkrieg nie wieder zuzulassen. Frieden in Deutschland, könnte man auch sagen, ist das Resultat der langen und grausamen Kriege, die Deutschland angezettelt hat. Was man daraus gelernt hat: Menschen können die Menschheit auslöschen. Frieden hat deshalb nicht nur einen moralischen Wert, sondern einen lebens-notwendigen.
Aber wie passt es denn zusammen, dass soziale Medien, Cyberattacken und unrechtmäßige Einflussnahme demokratische Staaten zu gefährden suchen? Wofür brauchen wir eine Cyberstreitkraft bei der Bundeswehr, wenn nicht zur Abwehr von potenziellen Angriffen? Die Mittel der modernen Kriegsführung wirken sich physisch oder psychologisch aus (Nicholas Michael Sambaluk Hg., Conflict in the 21st Century. The Impact of Cyber Warfare, Social Media, and Technology. Santa Barbara: ABC-CLIO, 2019, 123). Ihr Einfluss, wie groß er denn tatsächlich sein mag, wird breit diskutiert und sorgt mindestens für Verunsicherung. Denn die Konflikte spielen sich hier so subtil ab, dass sie schwer nachzuvollziehen sind.
Natürlich kann man die heutige Situation nicht mit der vor 80 Jahren vergleichen. Aber Bedrohungspotenziale wie z.B. der Digital War sollten auch nicht verharmlost werden. Die Subtilität und die unterschwellige Gefahr ist eine Belastungsprobe für jede Demokratie. Konflikte sind nicht sichtbar, was ja nicht heißt, dass sie nicht da sind. Deshalb könnte man auch von einem Scheinfrieden sprechen.
Krieg ist Krieg
In einigen Bereichen der Kriegsführung hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Digitale Technologien wirken sich auf die Medien und das Militär aus. William Merrin, Professor für Medien und Kommunikation aus England (William Merrin, Digital War. A Critical Introduction. Abingdon, Oxon: Routledge, 2019), weist darauf hin, dass sich die Bedeutung von Krieg in der westlichen Welt verändert habe. Es fehlten Opfer, Gewalt werde ästhetisiert und sanitisiert und Krieg sei hauptsächlich virtuell durch den Fernsehbildschirm wahrnehmbar (Merrin, Digital War, 42. Übersetzt ins Deutsche von K.K.). Merrin folgert weiterhin, dass die massenweisen Informationen, die uns täglich zugängig seien, und die Berichterstattung von jedem, der einen Internetzugang habe, nicht dazu führten, dass die Konflikte besser begreifbar wären. „TMI“, kurz für „too-much information“ habe im Gesamten den Effekt, dass es nicht mehr möglich sei, das Wissen zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen (Merrin, Digital War, 293). Das sind leider Ansätze, über die nachgedacht werden sollte.
Ganz offensichtlich hat sich das westliche Verständnis von Krieg gewandelt. Ja sogar dahingehend, dass Krieg simulationshaft und geplant durchgeführt wird; der Sieger steht schon im Vorfeld fest. Für uns nur erfahrbar als ein mediales Spektakel ohne jegliche Gefahr auf eigenem Boden. Ein sogenannter „non-war“ (Merrin, Digital War, 28). Das Ganze wird noch schön moralisch-ethisch eingepackt, mit Fernwaffen sauber durchgeführt, getreu dem Motto „minimaler Schaden, maximaler Erfolg“. Doch dass das Minimal-Maximal Prinzip nicht funktioniert, wissen wir schon aus der Schulzeit. Es kommt eben doch zu zivilen Opfern, Leid, Vertreibung, Hunger. Und manchmal erstauntes Aufrufen, wenn doch jemand Krieg mit Chemiewaffen führt, ein Krankenhaus angreift oder Hunger als Waffe einsetzt. Das sei doch gegen die Regeln der Kriegsführung. Krieg ist Krieg. Auch mit Spielregeln sollte er verurteilt werden. Gibt es den tugendhaften Krieg? Oder ist das ein Widerspruch in sich? Unsere outgesourcte Art der Kriegsführung drängt diese Fragen gerne mal in den Hintergrund.
„Und dabei herrscht um mich herum Krieg“
Inwiefern schaut man im Westen lieber nicht so genau hin, weil die hässlichen Seiten von Krieg so weit entfernt sind und so schwer zu begreifen, weil virtuell. Oder inwiefern schaut man im Westen gerne dorthin, wo es Konflikte gibt, weil man „moralisch überlegen“ in der Lage dazu wäre, einzugreifen und sich einreden kann, dass es bei uns ja, Gott sei Dank, nicht so zugeht.
Als Vertreterin einer jüngeren Generation hat sich der Blick auf Krieg für mich geändert. Ich kenne Krieg nur von Zeitzeugenberichten, Internet und Fernsehen. Und dabei herrscht um mich herum Krieg. Aber es ist ein anderer Krieg. Er fordert von mir keine persönlichen Opfer. Er schränkt mich nicht in meiner Freiheit ein. Ich werde nicht von ihm bedroht. Er zeigt nur dann und wann sein Gesicht, etwa 2015, als viele syrische Kriegsflüchtlinge in Deutschland ankamen und als Zeugen von Krieg von ihrem Schicksal erzählten und sichtlich geprägt waren. Oder aber auch, wenn Terroranschläge in Europa Gewalt und Tod verbreiten. Oder aber wenn reißerische und falsche Meldungen über soziale Medien verbreitet werden und politische Wahlen beeinflussen.
Durch die Vielgestaltigkeit moderner Kriegsführung, muss sich auch das Verständnis von Frieden anpassen. Echter Frieden kann nur gelingen, wenn er sich mit dem echten Krieg befasst und darauf Antworten findet. Sonst wird es womöglich einen Scheinfrieden geben, der sich nur mit der körperlichen Abwesenheit von Krieg begnügt, aber viele unterschwellige Konflikte ausblendet.
Auf persönlicher Ebene könnte das bedeuten:
Real life vs. Fake news
Gerade im interkulturellen Austausch besteht die wunderbare Möglichkeit, Vorurteile zu prüfen und zu reflektieren. Solche Vorurteile entstehen vielleicht, wenn die Begegnungen mit echten Menschen fehlen und man sich in digitale Räume zurückzieht und fürchtet, im echten Leben nicht mehr richtig verstanden zu werden bzw. sich frei ausdrücken zu dürfen. Begegnungen im echten Leben dürfen natürlich auch manchmal kontrovers sein. Ich betrachte Begegnungen als ein Training, den eigenen Standpunkt zu reflektieren und zu begründen, aber dabei andere Standpunkte zu respektieren.
Austausch vs. information bubble
Wer sich immer nur in seinem eigenen Dunstkreis aufhält, wird auch meistens das hören, was er sowieso schon ahnte. Die Algorithmen der sozialen Medien können diesen Mechanismus, dass man innerhalb einer Gruppe nur eine Meinung akzeptiert und Abweichler als Verräter gelten, genannt „group think“, noch weiter befeuern. Natürlich ist jeder auch unbewusst in Gruppen unterwegs, die die eigenen Denkmuster widerspiegeln und dadurch Bestätigung verschaffen. Im Dialog mit Menschen anderer Religion, anderer Konfession und anderer Kultur bekommt man manchmal eine erfrischende „kalte Dusche“, die die althergebrachten, tradierten Meinungen wunderbar hinterfragt oder in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das Suchen und Zulassen eines fruchtbaren, manchmal kontroversen Austauschs finde ich deshalb wichtig.
Empathie vs. virtual reality
Empathie bedeutet, das Gegenüber verstehen zu lernen und seine Emotionen nachempfinden zu können. Das geht gut, wenn man sich sieht und miteinander redet. Empathie lernen, bedeutet auch Menschlichkeit lernen. Virtuell ist man zwar durch wenige Klicks mit der ganzen Welt verbunden und kann fantastische Dinge über andere Kulturen lernen, aber Empathie füreinander entwickelt man auch ganz besonders beim gemeinsamen Lernen oder Leben.
Anselm Grün hat einmal gesagt: „Frieden ist nicht nur das Ergebnis des Kampfes.“ Frieden ist weit mehr als das. Das deutsche Wort Frieden stammt aus dem althochdeutschen „fridu“ und bedeutet „Schonung“ oder „Freundschaft“ (Wikipedia „Frieden“ https://de.wikipedia.org/wiki/Frieden, 18.12.2020). Freundschaft pflegt man und Freundschaft ist wertvoll, manchmal auch mit Arbeit verbunden. Freundschaft bedeutet, sich mit „echten“ Menschen zusammenzutun. Wenn daraus ein freundschaftliches Verhältnis entsteht, entsteht Frieden. Im althochdeutschen Wortsinn wird deutlich, dass es bei Frieden um Beziehungen geht. Auch wenn man natürlich nicht mit jedem eng befreundet sein möchte, ist Respekt schon einmal ein guter Anfang für Frieden.
In der oft als ambivalent und unübersichtlich wahrgenommenen Realität hat sich die Art der Kriegführung teilweise verändert. In den Friedensbemühungen darf dieser Aspekt nicht übersehen werden. Wird einzig und allein an der historischen Vorstellung von Krieg festgehalten, werden andere Konflikte, die schwerer wahrnehmbar sind, unterdrückt. Die Friedensarbeit zielt dann mitunter zu eindimensional in eine Richtung oder wird auf einem Auge blind. Eine mögliche Antwort wäre: Real life, Austausch und Empathie für Respekt und Freundschaft.
Kim Klotz