Mission des Miteinander-Lebens

Viele Kirchen und Missionsgesellschaften sind auf die Völker, die man früher pauschal „Indianer“ nannte, zugegangen, als seien diese in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Menschen. In Lateinamerika brach etwas Neues auf, als begonnen wurde, die Bibel nicht mehr für, sondern mit seinen benachteiligten Bevölkerungsgruppen auszulegen.

Noch bis vor wenigen Jahrzehnten waren in den meisten Staaten Süd- und Mittelamerikas Militärdiktaturen an der Macht. Die Kirchen versuchten zunächst, nicht anzuecken und so ihren Handlungsspielraum nicht in Gefahr zu bringen. Weil für die Regierungen nur zählte, was Profit brachte, wurden die armen Bevölkerungsteile noch ärmer und rechtloser. Doch war nicht Jesus zu den Armen und Ausgegrenzten gegangen?

Erste Priester stellten sich an den Fließbändern der Fabriken an die Seite von Gemeindegliedern und teilten ihren Alltag. Pastoren zogen zu kleinbäuerlichen Familien und bestellten mit ihnen in Handarbeit die Felder. Man sprach von der Mission der „Convivência“, des Mit-Lebens. Abends wurde miteinander die Bibel gelesen, neu gelesen: angesichts der erfahrenen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit. Und in der Erwartung, dass die Bibel etwas zu ihrem Dasein zu sagen hätte. Nicht nur dem einzelnen Menschen, nicht nur für das Seelenheil, sondern auch für das Heil der unter Ausbeutung leidenden Gemeinschaft.

Neu gewonnene Hoffnung: Mission der „Convivência“

Die gefundenen Antworten rüttelten an den hierarchischen Strukturen. Auch in den eigenen Kirchen. Und es geriet die Kraft, die im Zusammenhalt der Benachteiligten liegt, in den Blick. Viele wurden für das Aussprechen ihrer mutigen Auffassungen in Gefängnisse geschleppt. Doch die neu gewonnene Hoffnung blieb.

Und die Guarani, Quechua, Yanomami und zahlreichen anderen indigenen Völker? Aus wirtschaftlicher Sicht waren sie nutzlos. Wo sie die Ausbreitung des „Fortschritts“ störten, wurden sie umgesiedelt oder mit Gewalt vertrieben.

Als ihre Verdrängung und Ausbeutung 500 Jahre zuvor durch Europäer begonnen hatte, hatten nur wenige Kirchenvertreter etwas dagegen unternommen. Viele hatten deren Unterwerfung sogar gerechtfertigt.

Die jetzt in Slums und ländlichen Regionen aufgekeimte „Theologie der Befreiung“ motivierte Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen, auch das Leben indigener Gemeinschaften zu teilen. Diese nahmen das in erster Linie als ein Zeichen der Wertschätzung. Nun wurden sie nicht als „Halbwilde“ von oben herab herumkommandiert oder belehrt, sondern im Gegenteil, die neuartigen Missionarinnen und Missionare wollten zunächst von ihnen lernen. Und es war ein Zeichen der Solidarität. Tauchten wieder Fremde auf, die sich mit der Kraft ihres Amtes oder ihrer Hintermänner, ihrer Waffen oder ihres Geldes über Grenzen hinwegsetzen wollten, dann waren da auf einmal diese „lästigen“ Leute, die den Ureinwohnern beratend zur Seite standen.

Als mich 1994 die evangelische Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien in ein Team beim Volk der Kulina berief, war die brasilianische Militärdiktatur bereits seit neun Jahren von der Demokratie abgelöst worden.

Geringschätziges Bild – Indigene als Menschen dritter Klasse

Doch die Haltung gegenüber den indigenen Völkern hatte sich nur in wenigen Köpfen verändert. Ich lernte viele Brasilianerinnen und Brasilianer kennen, die sich für moralisch korrekt hielten, aber nichts dabei empfanden, wenn über Indigene wie von Menschen dritter Klasse geredet wurde, sie diskriminiert und gedemütigt oder um ihr bisschen Geld betrogen wurden. Fischerei-Betriebe drangen regelmäßig ins Territorium der Kulina ein und füllten tagelang ihre Netze. Dass in der Verfassung mittlerweile etwas geschrieben stand, das solches Eindringen verbietet – wen interessierte das schon?

Auch ich wohnte zunächst bei Kulina-Familien in verschiedenen Dörfern, teilte mit ihnen ihren Alltag und lernte, wie man im Regenwald mit Hacke, Fischnetz und Pfeil und Bogen ein gutes Leben führt. Geduldig lehrten sie mich ihre Sprache, und ich bekam erste Einblicke in ihre Überlieferungen. Außerdem wurde mir deutlich, wie weit sie die abwertenden Vorurteile gegen sie bereits akzeptiert hatten. Weil die meisten Älteren weder lasen noch schrieben, gaben sie der Auffassung recht, dass sie dumm seien. Auch stimmten viele zu, dass ihre Sprache eine der primitivsten sein dürfte. Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. Nach Deutsch bin ich bis heute mit dem Erlernen acht weiterer Sprachen beschäftigt gewesen, und von allen verlangt die der Kulina die größte logische Präzision.

Noch überraschender damals ihre Meinung zur Religion: Viele waren überzeugt, sie hätten gar keine. Dabei fehlte es nicht an schamanischen Priestern oder an Riten und Erzählungen. Alles war intakt. Doch meinten sie, dass das im Vergleich zum christlichen Glauben mit seiner Bibel und seinen Kirchen nichts zählte.

Noch während meiner Anfangszeit habe ich, gemeinsam mit Personen anderer Hilfsorganisationen, bei einer Umgrenzung des Territoriums dieser Kulina mitgeholfen. Den überwiegenden Teil der Arbeit haben sie selbst gemacht. Umgrenzen bedeutet im Regenwald nach den entsprechenden Bestimmungen, eine Schneise zu schlagen. Das dauerte für über 7000 Quadratkilometer sieben Jahre.

Bald habe ich auch bei der Ausbildung von eigenen Dorfschullehrern und -lehrerinnen mitgemacht. Unter anderem dafür erarbeitete ich mit ihrer Hilfe eine Grammatik. Viele Lehrkräfte staunten während der Einführungskurse. „Unsere Sprache ist ja wie Mathematik!“, bemerkte eine treffend. Meine Frau schulte als Ärztin Dorfgesundheitshelfer. Wenn wir unsere kleinen Kinder in ein Dorf mitbrachten, war die Freude groß. Wir konnten unbeschwert unseren Aufgaben nachgehen, denn wir wussten, dass immer irgendwer ein Auge auf sie hatte.

Biblischen Idealen ganz nah

Nach zehn Jahren leben und arbeiten mit ihnen schlug ich vor, dass wir in Seminaren über ihren und den christlichen Glauben sprächen. Ein heikles Thema. In der Vergangenheit hatten Missionare den Glauben der Kulina als lügenhaft oder teuflisch hingestellt. Ich erklärte, dass ich nicht in richtig und falsch einteilen wollte, sondern beide Religionen in Beziehung bringen. Es wurden spannende Zusammenkünfte, zum Teil mit unerwarteten Ergebnissen. So stellten wir fest, dass ihre Gemeinschaften manchen biblischen Idealen mehr entsprechen als die meisten christlichen Gemeinden. Denn die Kulina teilen fast alles miteinander, was sie besitzen, und sie kennen praktisch keine Hierarchie. Alle sind gleichrangig.

Dazu kommt, dass sie die Schöpfung, den Regenwald, nicht zerstören. Verlassen sie eine Gegend, kann die Natur innerhalb weniger Jahre alles so weit zurückerobern, dass nur ein geschultes Auge noch Spuren der Besiedlung erkennt.

Meine brasilianischen Kolleginnen und Kollegen, meine Frau und ich waren auch an anderer Stelle missionarisch tätig: in unserer Kirche. Um auch da Vorurteile gegen die sogenannten „primitiven Kulturen“ abzubauen. Und so die Möglichkeit zu mindern, dass ihnen wieder irgendwo Gewalt angetan werden würde.

Frank Tiss