Was siehst Du?
Wir haben unterschiedlichen Menschen eine alte Fotografie gezeigt und sie gefragt, was sie sehen. Bevor Du ihre Antworten liest überlege dir: Was sehe ich eigentlich?

Was siehst Du?
Eine Mutter hat ihren zwei Söhnen, die 6 und 8 Jahre alt sind, nacheinander das Bild gezeigt und die Söhne sollten zunächst beschreiben und dann deuten, was auf dem Bild zu sehen ist.
Mutter: Wen siehst du auf dem Bild und was fällt dir dazu ein?
Sohn (6 Jahre) sieht sich das Bild an und überlegt länger.
Mutter: Du hast wohl ein spektakuläreres Bild erwartet, was? Erzähl mir doch einmal etwas über diesen Mann hier rechts.
Sohn (6 Jahre): Auf jeden Fall hat er keine Haare.
Mutter: Ja, oder ganz wenig.
Sohn (6 Jahre): Einen langen Mantel. Ich glaube auch eine Fliege.
Mutter: Ja, irgend so einen Kragen.
Sohn (6 Jahre): Und auf jedem Fall noch unter einem schwarzen Hemd ein weißes.
Mutter: Was glaubst du, wer ist das hier?
Sohn (6 Jahre): Keine Ahnung.
Mutter: Das ist ja nun kein Mann mit einem Bart, ne?
Sohn (6 Jahre) überlegt lange.
Mutter: Was glaubst du denn, wie alt ist dieser Mensch hier?
Sohn (6 Jahre): 3 oder 4 Jahre.
Mutter: Könnte sein. Und was glaubst du, haben die was miteinander zu tun?
Sohn (6 Jahre): Ich glaube schon.
Mutter: Warum denkst du das?
Sohn (6 Jahre): Weil er seine Hand an der Hüfte von dem Mädchen hat.
Mutter: Das könnte ich mir auch vorstellen. Was glaubst du denn, was die beiden miteinander zu
tun haben?
Sohn (6 Jahre): Ich glaube, sie sind beide in der gleichen Familie.
Mutter: Ja, das kann sein. Und wer gehört noch zu dieser Familie?
Sohn (6 Jahre): Die zwei.
Mutter: Erzähl mal wer? Was fällt dir da auf?
Sohn (6 Jahre): Ein sehr langes Kleid.
Mutter: Hat wer?
Sohn (6 Jahre): Die Frau, die das Baby hält.
Mutter: Und du meinst also, die gehören zur selben Familie?
Sohn (6 Jahre): Ja.
Mutter: Und die da nicht?
Sohn (6 Jahre): Doch, ich glaube schon.
Mutter: Aha. Und erzähl mir doch mal was über diesen Menschen da.
Sohn (6 Jahre): Auf jeden Fall hat der Mensch ein Kopftuch und ein Tablett in der Hand.
Mutter: Was ist den auf dem Tablett drauf?
Sohn (6 Jahre): Eine Kanne und ich glaube auch eine Schüssel.
Mutter: Was glaubst du denn … Also würdest du sagen, es ist ein Mann oder eine Frau? Dieser
Mensch?
Sohn (6 Jahre) überlegt kurz: Eine Frau.
Mutter: Warum?
Sohn (6 Jahre): Vom Gesicht her.
Mutter: Was glaubst du macht die Frau mit dem Tablett?
Sohn (6 Jahre): Auf den Tisch stellen oder wegbringen?
Mutter: Und warum macht diese Frau mit dem Tablett und nicht zum Beispiel dieser Mann am
Tisch?
Sohn (6 Jahre): Weiß ich nicht.
Mutter: Okay. Aber du würdest sagen, der rechts mit dem Bart ist der Vater von dem kleinen
Mädchen?
Sohn (6 Jahre): Ja.
Mutter: Und diese Frau hier links?
Sohn (6 Jahre): Ist die Mutter von dem Baby.
Mutter: Und das Baby und das kleine Mädchen?
Sohn (6 Jahre): Sind Geschwister.
Mutter: Könnte sein. Und die Frau in der Mitte mit dem Tablett?
Sohn (6 Jahre): Keine Ahnung.
Mutter: Also du würdest denken, die gehört schon zur Familie, aber die deckt jetzt mal so den
Tisch?
Sohn (6 Jahre): Ja.
Mutter: Alles klar. Gut. Jetzt fragst du dich, warum du das Bild beschreiben musstest, was?
Was siehst Du?
Jetzt zeigt die Mutter das Bild ihrem anderen Sohn, der 8 Jahre alt ist.
Mutter: Das ist das Bild.
Sohn (8 Jahre): Das ist hier eine Familie mit zwei Kindern – in schwarz-weiß. Es muss sehr alt sein. Ein Busch dahinter. Einer Tischdecke mit irgendwas anderem – einem Muster drauf. Und daran hängen so kleine Bömmelchen.
Mutter: Du hast jetzt eben gesagt … . Ah, du warst noch gar nicht fertig. Kann ich dich mal was fragen: Du hast ja eben gesagt, dass du eine Familie siehst. Kannst du mir mal die Familienmitglieder sagen?
Sohn (8 Jahre) (überlegt): Wenn es nicht darum geht, die Namen zu sagen.
Mutter: Nein, das kannst du ja gar nicht wissen. Aber sag mir mal, der Mann hier ganz rechts mit
dem Bart?
Sohn (8 Jahre): Das müsste der Vater sein – von den beiden Kindern da.
Mutter: Aha. Und das hier?
Sohn (8 Jahre): Die Mutter.
Mutter: Und das?
Sohn (8 Jahre): Entweder ist das eine Angestellte oder eine aus der Familie, auch wenn es mir so aussieht als wäre es eine Angestellte.
Mutter: Warum denkst du, dass es eine Angestellte ist?
Sohn (8 Jahre): Weil ich glaube nicht, dass sie zur Familie gehört. Vielleicht liegt es daran. Ich glaube, die hier haben alle helle Haut und die hier dunkle.
Mutter: Ach so.
Sohn (8 Jahre): Früher war es ja meistens so, dass die mit der dunklen Haut versklavt wurden oder sowas. Und die trägt ja auch gerade was. Und ich glaube nicht, dass das zur Familie gehört. Und das ist ein Mädchen und das könnte ein Junge sein.
Mutter: Glaubst du nicht vielleicht, dass auch der Mann mal den Tisch deckt oder abräumt?
Sohn (8 Jahre): Irgendwie nicht.
Mutter: Hmm. Ja. Okay. Und hast du auch eine Idee, wo das Bild aufgenommen sein könnte?
Sohn (8 Jahre): Nein.
Mutter: Alles klar.
Sohn (8 Jahre): Für mich sieht es nach einem Garten aus. Und das da ist entweder eine Mauer
oder es sind Mülltonnen.
Mutter: Ich glaube das da ist eine Mauer. Danke schön. Das fand ich sehr interessant, was du da
gesehen hast.
Was siehst Du?
Eine Spiegelung meiner Prägungen.
Mir ist klar, dass alles, was ich wahrnehme, sehe und höre und dabei fühle, eine Spiegelung dessen ist, was bisher mein Leben geprägt hat. Deshalb macht es einen Unterschied, ob ich in Europa oder Afrika geboren wurde und ob ich bei Geburt eine dunkle oder eine helle Haut trug, Junge oder Mädchen war. Das, was ich sehe und das, was ich davon berichte oder erzähle, kann niemals neutral sein.
Aber ich kann versuchen, zu reflektieren, was mich geprägt hat und wie das meine Sicht auf die Welt bestimmt.
Ich sehe also auf diesem Bild eine europäische Familie aus der Zeit des früheren deutschen Kaisers Wilhelm I mit ihrem Hausmädchen. Es erinnert mich an alte Familienbilder aus dieser Zeit: Stramme aufrechte Haltung, Vater und Mutter sitzen auseinander, die Kinder in der Mitte, das kleinste Kind hat die Mutter auf dem Schoß. Der Blick ist starr in die Ferne gerichtet. Die Haltung des Vaters vermittelt Autorität. Doch ist hier etwas anders.
Ich kenne Bilder, die in Studios gemacht wurden. Die Fotografie steckte noch in den Kinderschuhen und es waren gute Lichtverhältnisse nötig und ein ruhiges Objekt, das stillhielt. „Bitte nicht wackeln!“ hieß dann, eine bis mehrere Minuten eingefroren in der Position zu verharren. Meine kleinbäuerliche Familie hatte auch kein Hausmädchen. Nur Familienmitglieder waren auf den Bildern zu sehen.
Hier ist zu sehen, dass man Stuhl und Tisch ins Freie befördert hat. Ich frage mich, warum. Waren die Räume drinnen nicht repräsentativ genug? War es, um bessere Lichtverhältnisse zu haben? Denn für mich ist offensichtlich, dass dieses Bild in Szene gesetzt wurde. Ein bestimmter Lebensstil wird dargestellt und damit dokumentiert. Herrschaftsverhältnisse werden deutlich. Mann und Frau werden durch die Kleidung gekennzeichnet. Die Mutter hat ein Kind auf dem Schoß, das Hausmädchen trägt das Tablett und der Vater sitzt frei mit übergeschlagenem Bein da. Zwischen den Eheleuten scheint es keine Beziehung zu geben. Ihre Blicke gehen zielgerichtet in völlig entgegengesetzte Richtungen. Nur das Kind auf dem Schoß und das Hausmädchen schauen nach vorn in die Kamera. Das Hausmädchen ist in der Mitte platziert, im Hintergrund, aber zentral. Sie trägt europäische Kleidung, wenn auch in einfacherer Ausstattung als die andere Frau. Sie trägt eine weiße Schürze und ein Kopftuch, das vorn an der Stirn verknotet ist. Das Hausmädchen ist als einzige Person dunkelhäutig. Hat sie diese Kleidung frei gewählt oder wurde ihr der europäische Kleidungsstil aufgezwungen?
Bei mir klingt an, dass es gewollt war, wer welche Rolle einzunehmen hat. Die (weiße) Mutter als fürsorgliche Versorgerin der Kinder, der (weiße) Vater als Oberhaupt und Autorität und die dunkelhäutige (schwarze) Frau, vielleicht eine Afrikanerin, in dienender Funktion.
Gabriele De Bona
Was siehst Du?
Auf dem Bild ist das Spiegelbild einer Dame zu sehen, die ihrer Gastfamilie das Essen serviert. Leider entpuppt sich das Dienstmädchen als eine Person mit nicht westlichem Hintergrund.
Aus der Wahrnehmung in Bezug auf Haltung und Anordnung nehme ich an, dass es sich um einen Akt der Ungleichheit und beabsichtigten Unterwerfung handelt, angesichts der Tatsache, dass die Dame ihr Tablett mit Saft oder Wasser hielt, als das Bild aufgenommen wurde.
Eine kleine Freundlichkeit wäre gewesen, das Tablett abstellen zu können und sich einen Platz zu suchen und zu sitzen, während das Bild aufgenommen wird.
Christine Sanyu Nakijjo