Nächstenliebe auch für Rechtsextreme

Im Juni 2018 stehe ich das erste Mal am Finkenberg Ecke Dornbusch. Es ist die Demo zur Sommersonnenwendfeier der NPD in Eschede. Mit bunten, selbstgebastelten Fähnchen sind wir dort und rufen Parolen: „Nazis raus!“ oder „Eschede ist bunt!“ Zwischendrin puste ich immer wieder in die Trillerpfeife, wenn sich ein Auto nähert, das Richtung Hof „Am Finkenberg“ einbiegt, um zur Feier zu fahren.

Neo-Nazis in Eschede

Als neue Pastorin im Ort soll ich bei der Demo eine Rede halten. Wochenlang überlege ich, was ich dort sagen könnte. Was sage ich als Pastorin, wenn Neo-Nazis zur eigenen Gemeinde gehören? Es muss um Nächstenliebe gehen. Das ist klar. Ich durchstöbere also das Internet nach Ideen und bekomme irgendwann den entscheidenden Hinweis: „There is no white Jesus“ also „Es gibt keinen weißen Jesus“ – der Titel eines Videos der BBC. Beim Schreiben wird mir klar: Nächstenliebe ist eine riesige Herausforderung und nicht für alle Christinnen und Christen ist diese selbstverständlich. Die Nächstenliebe ist für mich einer der wichtigsten Glaubensaussagen. Ich möchte anderen Menschen helfen. Aus der Bibel habe ich dabei gelernt: Nichts sollte meine Nächstenliebe einschränken. Das Aussehen ist egal. Das Heimatland ist egal. Die sexuelle Orientierung ist egal. Die Vergangenheit ist egal. Es braucht jemand meine Hilfe? Dann soll er oder sie sie auch bekommen! Ich muss mir allerdings selbst die Frage stellen: Schränke ich meine Nächstenliebe ein, wenn ich auf einer Demo Parolen rufe und auffordere, dass Menschen aus meinem Dorf verschwinden sollen?

Nächstenliebe nur für das eigene Volk?

Nun habe ich es in meiner Gemeinde mit Neo-Nazis zu tun. Zum Glück trifft das nur auf den allerkleinsten Teil der Gemeinde zu. Und doch: Es gibt sie. Und sie sind nicht dafür bekannt, dass Ihnen die Nächstenliebe besonders wichtig ist – zumindest nicht so, wie ich sie verstehe. Ihre erste Frage ist eher: Wo kommst du her? Welche Hautfarbe hast du? Passt du in unser Land? Es geht ihnen um „das deutsche Volk“. Es sollen alle möglichst gleich sein. Einzelne Menschen sind ihnen egal. Das „deutsche Volk“ steht an erster Stelle. Die anderen sind nicht so wichtig und viele meinen sogar, dass andere Völker minderwertig seien. Um sie muss man sich nicht kümmern. Das passt alles nicht zum christlichen Glauben – zumindest nicht so, wie ich ihn verstehe. Alle sind in Christus eins und alle sind vor Gott gleich, auch wenn wir alle auf dieser Welt verschieden sind. Es ist die bunte Familie dieser Welt. So sehe ich die Welt und das passt nicht dazu, wie die Neo-Nazis die Welt sehen.

Wie ist es dazu gekommen, dass Neo-Nazis in Eschede wohnen? Schon lange gibt es einen Bauernhof etwas außerhalb des Ortes. Viele Jahre treffen sie sich dort bereits. Lange hat das niemand bemerkt. Sie haben dort zum Beispiel die Sommer- und Wintersonnenwende und Erntefeste gefeiert. Sie nennen es Brauchtumsfeiern, doch sie dienen der Vernetzung der rechtsradikalen Szene in Norddeutschland sowie der Planung neuer Aktionen. Sie haben Zeltlager veranstaltet zur Einbindung und Unterweisung von Kindern und Jugendlichen. Verbotene Gruppen haben sich dort getroffen, wie zum Beispiel: die „Heimattreue Deutsche Jugend“. Es gab Rechtsrockkonzerte und Wehrsportübungen. Diese hat der Besitzer des Hofes dort veranstaltet, der Mitglied der NPD ist. Auch heute wohnt er noch im hohen Alter auf dem Hof.

Der Hof liegt direkt am Wald. Darum ist er für die Neonazis so gut geeignet. Nur wenige Menschen kommen dort vorbei. Es gibt keine Durchgangsstraße, die dort vorbeiführt. Bis zum Jahr 2007 hat Eschede gar nicht so viel von alldem mitbekommen oder hat es einfach so hingenommen. Dann wurde ein Bündnis aus Gewerkschaftsbund, Parteien, Arbeitsgruppen und auch der Kirchengemeinde aktiv. Das heutige Bündnis gegen Rechtsextremismus und das Netzwerk Südheide organisieren Demonstrationen gegen die Neonazis mit sehr unterschiedlicher Beteiligung. Als ich meine erste Rede halte, sind circa 80 Personen da. Sie gehören zu denjenigen, die keine rechten Umtriebe in Eschede haben möchte. Drei Mal im Jahr gibt es wieder die Trillerpfeifen, Reden, Musik, Parolen – im Winter mit etwas Punsch und Schmalzbroten, im Sommer mit Kaffee und Kuchen.

Gestörter „Frieden“ – Diskussionen im Ort

Wenn ich als Pastorin auf diesen Demonstrationen stehe, muss ich mir immer wieder bewusst machen, dass die Meinungen im Dorf und der Kirchengemeinde sehr unterschiedlich sind. Jedes Mal gibt es eine hitzige Diskussion besonders in den Sozialen Medien dazu. Die einen sagen: „Lass die doch machen! Die stören doch keinen.“ Die anderen sagen: „Wir können sie nicht einfach machen lassen. Wir müssen dagegen demonstrieren! Die sind gefährlich.“ Zu manchen Demonstrationen kommen Anhänger der „Antifa“ aus dem so genannten „Schwarzen Block“ dazu. Das führt im Ort zu noch heftigeren Diskussionen. Manche sagen: „Die stören den Frieden viel mehr als die paar Menschen auf dem Hof und besser sind sie auch nicht.“

Seit 2019 gehört der Hof nicht mehr dem Mann aus Eschede. Er gehört dem Landesverband der NPD aus Niedersachsen. Dadurch hat sich die Debatte verändert. Die Neonazis möchten sich hier festsetzen. Sie bauen ein Schulungszentrum, um sich in der rechten Szene zu vernetzen, weiterhin Lager abzuhalten, ihre Strukturen zu verfestigen. Zur Bürgermeisterwahl in Eschede im September 2021 hat die NPD angekündigt, auch einen Kandidaten ins Rennen zu schicken. So waren am 19. Dezember 2019 nicht nur, wie im Winter üblich, 60 Personen bei der Demo „Am Finkenberg“, sondern 600 Personen. Die Diskussionen im Ort blieben aber auch dann nicht aus.

„Ich demonstriere nicht gegen Menschen, sondern gegen Ideologien“

Solche Diskussionen bleiben auch in der Kirchengemeinde nicht aus. Schließlich steht sie mitten in der Welt – mitten im Dorf. Und so, wie das Dorf in dieser Frage gespalten ist, ist es auch die Kirchengemeinde. Für mich als Person und auch als Pastorin stand von Anfang an fest: Ich nehme an den Demonstrationen teil und spreche dort auch – aus meiner Perspektive. Mich leiten dabei Worte aus der Bibel: Erheb´ deine Stimme für Menschen, die nicht für sich selber sprechen können! Setz dich ein für das Recht aller Schwachen (Sprichwörter 31,7; Basisbibel).

Mit der Ideologie, von der die NPD geleitet ist, wird es immer Menschen geben, die ausgeschlossen, herabgewürdigt und diskriminiert werden. Dagegen muss ich als Christin meine Stimme erheben. Ich weiß, dass es dafür Gegenwind gibt und Menschen anderer Meinung sind. Andere ergreifen mit diesem Satz in unserem Dorf sogar Partei für die NPD: Sie seien doch hier die Minderheit. Sie würden beschimpft und verunglimpft. Vor allem gibt es diese Argumente, wenn es um den ehemaligen Besitzer des Hofes geht. Er sei doch nur ein armer alter Mann.

Da komme ich dann ganz konkret zu dem Problem mit der Nächstenliebe. Kann ich als Pastorin überhaupt gegen Menschen demonstrieren gehen? Ist dieser Mensch kein von Gott angenommenes Menschenkind, dem in der Taufe die Annahme in die Gemeinschaft Gottes zugesprochen wurde?

Ja, auch diese Menschen sind von Gott angenommen. Ja, sie sind Teil der Gemeinschaft mit Christus und Teil der christlichen Gemeinde. Ich demonstriere nicht gegen Menschen, sondern gegen Ideologien. Ich spreche diesen Menschen nicht ihre Rechte ab, nicht ihre Würde, nicht ihren Glauben. Aber ich stelle in Frage, dass ihr Denken und Handeln dem entspricht, was Gott von uns will.

Ändern sie ihre Meinung, höre ich auf zu demonstrieren. Gerne reiche ich ihnen dann die Hand. Gerne biete ich ihnen jetzt schon alle Hilfe an, die mir möglich ist, um sie aus ihrem Denken zu befreien. Denn für mich ist klar: Diese Ideologie passt nicht mit meinem Verständnis von Nächstenliebe zusammen. Sie passt nicht zu meinem christlichen Weltbild. Es passt nicht zur Vorstellung einer weltweiten Christenheit. Das Evangelium endet nicht an den Grenzen von Ländern und es gibt auch kein anderes Evangelium für einzelne Völker.

„Ich stoße hier an eine Grenze meiner Nächstenliebe“

Im Juni 2018 stehe ich mit meiner gelben Regenjacke an der windigen Kreuzung. Ich versuche mit meinen Worten zu den eher kirchenfernen und -kritischen Demonstranten durchzudringen. Mir ist klar geworden: Wir können nicht bei dem alten „Wir-gegen-Die“ bleiben. Dann machen wir es auch nicht besser. Wir können aber auch nicht aufhören, gegen den Hass zu demonstrieren, der unsere Gesellschaft zerfressen will. So sagte ich: „Ich will als Christin meinen Nächsten lieben, egal, wo sie herkommt, egal, wie er aussieht, egal, was sie mal getan hat. Denn Gott vergibt.“

Ich kann vielleicht nicht immer zwischen dem Menschen und seinem Werk unterscheiden. Ich glaube aber, dass Gott alle Menschen bedingungslos liebt. Ich möchte die Welt gern mit Gottes Augen sehen. Aber das gelingt mir nicht, wenn ich sehe, dass Menschen so offensichtlich Böses tun. Mir fällt es dann schwer, die Hand zu reichen und das Gespräch zu suchen. Ich stoße hier an eine Grenze meiner Nächstenliebe, weil ich merke, dass diese Menschen so mit ihrer menschenverachtenden Ideologie verbunden sind.

Ich versuche, an mir zu arbeiten. Ich werde weiter demonstrieren. Und ich erinnere mich daran, dass nicht ich die Richterin über die Menschen bin. Gott ist der Richter. Auf ihn hoffe ich – schon jetzt. Auf seinen Frieden hoffe ich auch für unseren Ort – nicht wie ich ihn geben kann, nicht wie wir Demonstrant*innen ihn geben können, sondern so wie Jesus ihn schenkt: Ich gebe euch meinen Frieden. Ich gebe euch nicht den Frieden, wie ihn diese Welt gibt. (Johannes 14, 27 Basisbibel)

Franziska Baden