Privileg des Wegsehens – Was kümmert’s mich?

Gibt es das Recht, wegzusehen oder ist es ein Privileg, zu ignorieren. Ein Gedankenspiel.

Stell dir vor, du sitzt in einem Klassenraum, kurz vor der Abschlussarbeit. Alle 29 anderen Schüler*innen sitzen im selben Raum. Jede*r an einem eigenen Tisch. Alle sind zur Tafel ausgerichtet. Fünf schön ordentliche Reihen mit jeweils sechs Mitschüler*innen. Vorn ist die Lehrkraft und verkündet pompös die allesentscheidende Abschlussarbeit: „Schreibt euren Namen oben rechts auf ein liniertes A4-Blatt mit 80g/qm. Zerknüllt es dann.“ Die Lehrkraft hebt einen roten Eimer und stellt ihn direkt vor die Tafel auf den Boden: „Werft schließlich die Papierkugel in diesen Eimer. Wer trifft, hat bestanden!“

Natürlich ist dieses Szenario fiktiv, aber das Problem, das es beschreibt, ist es nicht. Obwohl die Angaben für das Blatt Papier so genau sind, dass es den Anschein haben könnte, es handle sich um eine einheitliche, kontrollierte und damit wiederholbare Testsituation, haben doch die Menschen in der ersten Reihe, besonders die direkt vor dem Mülleimer, die besten Chancen, den Eimer zu treffen und in dem Szenario zu bestehen.

Die einen systematisch bevorteilt,
die anderen unverschuldet benachteiligt

Wenn sich jetzt Leute aus der zweiten Reihe beschweren, dass sie es viel schwerer hätten, den Eimer zu treffen als die in der ersten, können wir uns vorstellen, dass die in der ersten Reihe schmunzeln und ihren Mitschüler*innen viel Glück wünschen, in der Sicherheit, dass es ihnen gut geht. Und natürlich heißt das nicht, dass alle aus der ersten Reihe den Eimer auch treffen. Vielleicht kann jemand nicht gut werfen, hat einen schlechten Tag, kippt aus Versehen den Tisch beim Werfen um. Vielleicht reißt jemand aus der ersten Reihe sogar die eigene Wasserflasche um, sodass sie die Sitznachbarin trifft, die damit aus der Konzentration gerissen den Eimer verfehlt – kurz gesagt: Nur weil manche in diesem Szenario eine größere Chance haben, zu treffen, heißt es nicht, dass sie es auch tun, oder, dass es keine anderen Probleme geben kann, die ihnen den Wurf erschweren. Fakt ist, dass manche systematisch bevorteilt werden und andere unverschuldet benachteiligt.

Stellen wir uns weiter vor, wie aus der letzten Reihe, in der linken Ecke beim Fenster, eine Person ruft, wie unfair es sei. Wenn jemand in der ersten Reihe darüber nachdenkt, wie der Test aufgebaut ist, wird auch dieser Person auffallen, wie unfair die Situation ist. Doch der Raum ist immer noch laut vom Lachen anderer auf der Pole-Position, dem Rascheln derer, die weiter hinten unglücklich auf ihren Stühlen hin- und herrutschen, unschlüssig, ob sie etwas sagen sollen oder den Wurf einfach versuchen und auf das eigene Talent oder Glück hoffen. Vielleicht hört man die Anklage nicht und so meldet sich jemand aus der rechten Ecke, neben der Tür: „Was soll der Mist! Das schaff ich niemals! Der Test ist murks!“ Die Person ist offensichtlich aufgebracht, wer wäre das nicht? Viele drehen sich zu ihr um und nicken. Weniger aus der ersten Reihe tun das. Der Test ist schließlich perfekt für sie. Und auch wenn sie es nicht zugeben wollen: Je weniger bestehen, desto wertvoller fühlt sich das Bestehen an!

Die meisten in der ersten Reihe haben schon geworfen und feiern lauthals ihr Bestehen, während in den hinteren Reihen immer mehr Unmut laut wird. Jetzt kommt ein neues Problem hinzu: Wenn der Test jetzt noch geändert werden sollte, gilt dann das Bestehen derer, die schon getroffen haben weiter oder müssen sie noch einmal werfen – mit der Chance, dass sie dieses Mal verfehlen?

Wir als Leser*innen dieser fiktiven Situation sind uns einig, dass der Test weder das Bestehen für irgendwas – außer Papierkugelzielwurf – bestimmen kann, noch dass der Aufbau allen die gleichen Chancen ermöglicht. Wir als Leser*innen sind uns also wahrscheinlich einig, dass sich wenigstens alle in eine Reihe aufstellen und nacheinander vom selben Punkt aus werfen sollten.

Deswegen kommt jetzt die Frage: Warum haben einige bereits geworfen? Ist es blindes Vertrauen in den Test, weil er von der Autoritätsperson der Lehrkraft kommt? Ist ihnen einfach nicht aufgefallen, dass der Test in so vielerlei Hinsicht „falsch“ ist? Ist es ihnen egal? Wie kann jemandem egal sein, dass es anderen schlechter geht?

Darf es Menschen egal sein, wenn es anderen
Menschen systematisch schlechter geht?

Oder anders gefragt: Darf es Menschen egal sein, wenn es anderen Menschen systematisch schlechter geht? Haben wir die Pflicht, uns vor dem Werfen umzusehen, zu beurteilen, ob das System fair ist, bevor wir mit unserer Teilnahme unser Einverständnis erklären?

Und die Person in der vierten Reihe, die so begabt im Papierkugelwurf ist, dass sie wusste, sie würde treffen: war es von ihr okay, dass sie geworfen und getroffen hat? Oder hätte sie aus Solidarität zu den anderen in den hinteren Reihen auf das sichere Bestehen verzichten sollen und auf einen anderen Test warten sollen?

Stellt man sich vor, man säße in der ersten Reihe, direkt vor dem Eimer, ist es leicht, sich nicht umzudrehen. Man muss immer noch werfen können, um den Test zu bestehen. Es wird sich so anfühlen, als habe man das Bestehen verdient, als habe man alles richtig gemacht. Und schließlich hat man sich nicht selbst den Test ausgedacht, sondern die Lehrkraft.

Je mehr Privilegien ein Mensch hat, desto leichter ist es, die systematische Benachteiligung zu ignorieren. Je weiter hinten man sitzt oder – um die Allegorie zu übertragen – je weniger Privilegien man hat, desto schwerer ist es, die Benachteiligung zu ignorieren. Wegzusehen ist also ein Privileg, das aus anderen Privilegien resultiert. Es fühlt sich wahrscheinlich an wie ein Recht, weil es das Produkt anderer Umstände ist.

Im wahren Leben – also außerhalb des Papierkugelzielwurfszenarios – sind Privilegien allerdings schwerer zu erkennen als Stuhlreihen in einem Raum. Sie sind jedoch nicht unsichtbar und sie nicht zu erkennen, ist genauso eine Weigerung wie sich nicht umzudrehen.

Es gibt kein Recht wegzusehen, sondern das Privileg
zu ignorieren, was einen nicht betrifft.

Der Klimawandel? Zeigt sich im globalen Norden auch in häufigeren und extremeren Unwettern, die man in einem stabilen Haus mit stabiler Strom- und Wasserversorgung sehr bequem und mit milden Einbußen übersteht. Unmenschliche Bedingungen in Flüchtlingslagern? Lassen sich im bequemen Sessel mit einer heißen Schokolade und der Sicherheit, dass man selbst ja nie flüchten würde, aushalten. Hungersnot in Kriegsgebieten? Rassismus in Nord Amerika? Ungleiche Bildungschancen in Deutschland? Rassismus und Xenophobie in Deutschland? Vielleicht sind die Beispiele noch so allgemein, dass die Menschen in der Masse untergehen. Eine Suchanfrage im Internet behebt die Anonymität der zahlreichen Opfer der Privilegien erhaltenden Systeme, in denen wir leben. Das zu ignorieren, ist ein Privileg und kein Recht, ist eine Entscheidung und keine neutrale Haltung. Wegzusehen ist das Leid echter Menschen zu legitimieren.

Ausnahme:

Menschen, deren mentale Verfassung das Leid anderer nicht zusätzlich erträgt, ohne weiter Schaden zu nehmen, sind die einzigen Menschen, die das Recht haben, weg zu sehen, um selbst zu heilen.

Sarah Besler