Vom Jammern und vom Klagen

Gespräche über das Klagen bewirken in mir ein gewisses Unbehagen. Es erinnert mich zu sehr ans Jammern.

Jammern ist das kleine Geschwister von Klagen. Ich führe zu viele Gespräche, in denen kein Austausch stattfindet, sondern man sich gegenseitig erzählt, wie schlecht es um die Welt steht, welche Fehler Andere machen, wie schwer der Beruf fällt. Dann fühlt man sich wohl, weil man mit den negativen Erfahrungen nicht allein dasteht, es entsteht Gemeinschaft.

In der Medizin gibt es dafür einen Ausdruck: Positiven Krankheitsgewinn. Es geht mir schlecht und deswegen schenken mir andere Menschen Aufmerksamkeit und Zuwendung. Außerdem kann ich mich selber sehr intensiv wahrnehmen, wenn ich leide. Das fühlt sich vielleicht nicht gut an, aber echt und bedeutungsvoll. Auch beim Jammern bekommt man den Eindruck, bedeutungsvolle und wahre Dinge auszusprechen.

Ich führe manchmal in Gesprächen ein Experiment durch. Ich frage: „In welchem Moment warst du in letzter Zeit glücklich?“ Oder in einer Runde mit Freunden: „Was schätzt ihr aneinander?“  Dann entsteht auch ein Gemeinschaftsgefühl und zusätzlich Freude und Leichtigkeit. Hört sich nach Gruppentherapie an, mit dem Ziel fröhlicher durchs Leben zu gehen? Ja. Aber dann ist eine Gesprächsrunde über die schlechten Seiten unseres Lebens auch eine Gruppentherapie. Mit dem Ziel, die Fähigkeit zu entwickeln, alles negativ sehen zu können. Welche würden Sie buchen?

Die Welt ist furchtbar. Und sie ist das größte Wunder.

Sich auf die positiven Dinge zu fokussieren, bedeutet nicht, den Sinn für die Realität zu verlieren. Es geht nicht um eine rosa Brille. Es geht darum, die graue Brille abzusetzen. Die Welt ist furchtbar. Und sie ist das größte Wunder.

Klagen ist nun aber etwas anderes als Jammern. Jammern können wir über Dinge die uns nerven, die uns aber nicht niederstrecken. Klagen, das ist, wenn wir am Ende angekommen sind. Wenn wir nichts mehr tun können als unser Gebrochensein zu benennen.

Und hier, am Ende der Kraft und der Hoffnung, kann ein Wunder geschehen. Wenn man anerkennt, dass ein Weg zu Ende ist, wird vielleicht sichtbar, dass andere Wege es noch nicht sind. Es gibt Menschen, die erblinden, alles verlieren, den eigenen Tod vor Augen haben und dennoch Frieden finden. Das Klagen endet, wo wir loslassen können. Die größte und schwerste, vielleicht die einzige Aufgabe unseres Lebens.

Beim Jammern können wir für diese Aufgabe üben: Lass los. Es ist es nicht wert. Es gibt noch mehr.

Michael Charbonnier