Zum Himmelssteiger berufen
Einmal rauskommen aus den permanenten Konflikten und Kontroversen, die sich immer so schnell zuspitzen und emotional aufladen: Ich oder du, Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge, Angriff oder Verteidigung, Macht oder Ohnmacht, Sieg oder Niederlage. Immer nur Entweder-oder.
Da hilft es, eine Unterbrechung zu machen. Auszusteigen. Sich für einen Moment zu entziehen. Distanz zu schaffen. Überblick zu gewinnen. Vielleicht nur einige Schritte nach oben. Wie der Himmelssteiger. Noch bin ich nicht entrückt. Kein Freiheitsgefühl über den Wolken, das alles hinter sich zurücklassen würde. Keine Flucht. Aber eine neue Perspektive, in der ich auf mich und mein Gegenüber blicke. In der Hoffnung, mit neuen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten wieder unten anzukommen und verändert in die Auseinandersetzung eintreten zu können.
Mit Arroganz und Abwertung ist nichts gewonnen
Allerdings stellt sich bei mir an dieser Stelle ein selbstkritischer Impuls ein. Wenn ich die Position nur nutze, um von oben herab zu schauen, wäre für die Auseinandersetzung nichts gewonnen. Der Konflikt hätte sich von der Horizontalen nur in die Vertikale verlagert und sich emotional verschärft, weil Unter- und Überlegenheitsgefühle zusätzlich angeheizt würden. Wer will sich schon gern von oben herab behandeln lassen.
Deute ich den Himmelssteiger als religiöses Symbol, so wird sichtbar, worin das Konfliktpotential von Religionen liegen kann. Denn reklamiere ich die religiöse Perspektive von oben allein für mich, verschärft sich die Konfliktsituation um eine gefährliche Dimension. Mit Gott auf meiner Seite scheint jedes Mittel in der kontroversen Auseinandersetzung gerechtfertigt zu sein. Durch die Geschichte der Religionen zieht sich eine entsprechende Spur der Gewalt bis in die Gegenwart hinein. Und auch da, wo auf Gewalt bewusst verzichtet wird, geht diese Grundhaltung mit Arroganz und Abwertung des Gegenübers einher.
Die gleiche Himmelswürde für alle
Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn ich die religiöse Weltsicht in gleicher Weise für uns beide geltend mache. An einem markanten Beispiel kann dies deutlich werden: In einer christlich gedeuteten Weltsicht sind alle Menschen Ebenbilder Gottes. Allen kommt die gleiche Himmelswürde zu. Diese Sicht stellt mich auf eine Stufe mit meiner Kontrahentin und bringt eine neue Logik in das Verhältnis ein. Nicht mehr nur Entweder-oder, sondern auch Sowohl-als-auch. Es ist, als würde die Himmelsdimension als verbindende wie trennende Größe zwischen uns wandern und damit den Raum erweitern und zu einem Dreieck aufspannen.
Das schafft Distanz ohne Schieflagen von oben und unten. Das öffnet Raum, um in Auseinandersetzungen nicht nur auf einer Position zu beharren, sondern sich zu bewegen. Mit Verständnis sowohl sich selbst als auch die Anderen zu betrachten. Neben Differenzen auch Gemeinsamkeiten zu entdecken, ohne die Unterschiede klein zu reden. Das bietet keine Garantie, um jeden Konflikt einvernehmlich beizulegen. Aber einen Raum, um respektvoll miteinander um mögliche Kompromisse zu ringen, ohne das Gesicht oder noch viel mehr verlieren zu müssen.
Wer seine*n Gegner*in sieht, blickt Gott ins Gesicht. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Denn jeder Mensch ist zum Himmelssteiger berufen.
Philipp Elhaus